Ja, hm, nech.
Drei
Und wieder waren wir unterwegs. Der Hauptmann hatte nicht lange gefackelt, nachdem Justine und ich aus dem Tempel zurück waren. Er hatte uns angetrieben, die Pferde zu satteln, und bald darauf waren wir aus dem Tor des Tempelgrundstücks heraus geritten. Noch hatte er uns nicht verraten, was er noch herausgefunden hatte, aber er schien ein festes Ziel zu haben. Wo oder was auch immer das war.
Für eine Weile ritten wir schweigend hintereinander die Straße entlang. Neben der Straße lagen zu beiden Seiten kahle Felder, immer wieder unterbrochen von Feldrain und kleinen Wäldchen. Eigentlich war es das genaue Gegenteil zum Heller-Wald, den wir hinter uns gelassen hatten. Aber die Nebelschwaden und die feuchte Kälte, die über das Land trieben, verbesserten unsere Laune kein Stück. Ich hatte kein Problem mit Feuchtigkeit, und ich hatte eine recht hohe Kältetoleranz, aber ich hatte seit neuestem einen Feuersoldaten in meinem Kopf. Und dessen Unbehagen konnte ich selbst durch die mentale Mauer, die ich instinktiv hochgezogen hatte, spüren.
Unwillkürlich zog ich den Kopf zwischen die Schultern und machte mich so klein wie möglich auf Castans Rücken. Der sanft schaukelnde Gang meiner Stute lullte mich in einen halbwachen Zustand ein, und meine Gedanken begannen zu wandern. Ich wusste, dass das nicht gerade ungefährlich war – vor allem, wenn man den Zusammenstoß im Heller-Wald bedachte – aber diese Methode hatte sich auf langen Ritten als am wenigsten anstrengend erwiesen, und ich hatte so das Gefühl, als wenn ich meine Kraft noch brauchen würde.
Ich starrte auf Justines Rücken, die zwischen mir und dem Hauptmann ritt. Ihre Stute schritt kräftig aus und warf dann und wann den Kopf hoch. Das Tier brauchte dringend mal ein paar Kilometer im gestreckten Galopp, aber unsere Erbin würde wohl eher sterben als ihrem Reittier mal die Zügel zu geben. Noch weiter vorne ritt der Hauptmann seinen Grauen, und sein verwaschen-dunkelroter Umhang war der einzige Farbtupfer in einer Welt aus dumpfen Grau- und Brauntönen. Es wurde wirklich Zeit für den ersten Schnee.
Je länger ich auf den Rücken des Hauptmanns starrte, desto mehr Fragen kamen mir in den Sinn. Was hatte er gesehen, als man ihn mit mir Verbunden hatte? Und was bedeutete das, das ich gesehen hatte? Kurz entschlossen trieb ich Castan an und trabte an Justine vorbei zum Hauptmann. Normalerweise war ich direkt und hatte keine Scheu, Höherrangige auf heikle Themen anzusprechen. Aber hier… Ich holte tief Luft und sagte dann: „Kann ich… Euch eine Frage stellen, Hauptmann?“
Es schien, als sei auch er in diesen halbwachen Zustand verfallen, in den ich mich auf langen Ritten zurückzog, und als würde er eine Weile brauchen, um wieder heraus zu finden. Halb rechnete ich damit, dass wieder irgendetwas aus dem Nichts sprang, als er endlich zu einer Antwort ansetze, aber stattdessen sagte er lediglich: „Fragen könnt Ihr. Ob Ihr eine Antwort bekommt, steht auf einem anderen Blatt.“ Ach, waren wir irgendwie mies drauf auf einmal?, dachte ich.
Sagen tat ich: „Was… habt Ihr gesehen, als… man uns Verbunden hat?“ Er warf mir einen seltsamen Blick zu, irgendetwas zwischen Resignieren, Misstrauen und… etwas Undefinierbarem. Er setzte ein paar Mal erfolglos an, bis er schließlich sagte: „Bevor ich irgendetwas sage, Ti’An, versprecht mir um Eodains Willen, dass Ihr mich endlich mit Charris ansprechen werdet.“ Um ehrlich zu sein: Ich erschrak ein bisschen. Gläubigen der Eodara – der Göttin – war es untersagt, sie öffentlich beim Namen zu nennen. Nur die drei Obersten des Ordens – die Hochpriesterin, das Hohe Schwert und der Hochmagier – taten dies. Sogar den Namen zu denken war für mich schon fast eine Todsünde.
Aber ich hielt mich zurück, als er den Namen seines Obersten Gottes aussprach. Mir lag viel zu sehr an der Antwort, als dass ich mich noch gestritten hätte. Und so sagte er: „Ich… weiß nicht genau, ob es wirklich was mit dem Bund zu tun hat oder nur Fieberhalluzinationen waren. Es sind… auch nur Fragmente.“ Er sah mich wieder an, und diesmal sah ich Schmerz und… Mitleid in seinen Augen. „Was ich gesehen habe… der Krieg hat Euch mehr zugesetzt, als Ihr andere Glauben machen wollt. Ihr seid nicht diese kalte, zynische Maske, die Ihr da tragt. Ihr seid…“
Ich zog scharf Luft ein. Ich wollte das nicht hören. Ich wollte nicht hören, wie er behauptete, er wisse, wer ich sei, wie ich sei, was ich sei. Vor allem, weil ich Angst hatte, dass er recht haben könnte. Wenn es eines gab, was ich nicht mehr wollte, dann war es, dass jemand mich für ein kleines Mädchen hielt, das nichts von der Welt wusste und das leicht zu beeindrucken war. Ich wollte diese harte, zynische Kriegerin sein, die ich spielte. Aber tief drinnen wusste ich bereits damals, dass ich das nie werden würde.
Als ich mit Justine und dem Hauptmann – Charris – diese Straße entlang ritt, glaubte ich jedoch noch an die Maske, die ich trug, und das wollte ich Charris begreiflich machen. Dummerweise entfuhr mir ein ärgerliches Fauchen: „Ihr habt keine Ahnung, wer ich bin. Und ich will, dass Ihr aufhört, zu denken, Ihr tätet es. Wagt es ja nicht, Euch noch einmal so ein Urteil über mich zu erlauben.“
Und um das Ganze komplett zu machen, wendete ich Castan und setzte mich wieder ans Ende unserer Gruppe. Damit hatte ich mich wieder einmal erfolgreich zum Narren gemacht. Und statt es mit Fassung zu tragen verfiel ich wieder einmal in beleidigtes Brüten. In meinem Kopf hörte ich meine immer heitere und gelassene Schwester lachen und sagen: „Ach An… du wirst es nie lernen, was?“, und ich hoffte, dass mein Gesicht nicht so rot war wie es sich anfühlte.
Wir ritten immer noch schweigend, aber langsam regte sich etwas auf den Feldern, zwischen denen wir ritten. Große schwarze Gebilde erwachten, fingen an, sich bemerkbar zu machen – mit laut vernehmlichem Krächzen. Wann immer wir einem Schwarm zu nahe kamen, stiegen sie mit viel Gezeter in den Himmel auf und flogen als schwarze Wolke über uns hinweg. Ich hatte das Gefühl, als wollten sie uns irgendwie vertreiben, tat es aber als Einbildung ab. Das waren Krähen, große schwarze ärgerliche Krähen, die niemandem außer dem Winterweizen etwas taten. Wir hatten sie nur aus ihrem Schlaf aufgescheucht. Und die ungeheure Zahl hieß nur, dass es einen verdammt kalten Winter geben würde.
In meinem Kopf konnte ich ganz leichtes fremdes Unbehagen ausmachen, und diesmal hatte es nichts mit der Kälte oder der Feuchtigkeit zu tun. Irgendwie… wusste er mehr als er zugab, hatte ich das Gefühl. Aber ich hatte mich gerade wie die dümmste Küchenmagd benommen, deswegen wagte ich nicht, noch einmal das Wort an ihn zu richten. Und das musste ich auch gar nicht. Statt meiner trieb Justine auf einmal ihr Reittier neben Charris’ Wallach.
Ohne nachzudenken trieb ich Castan ein paar Schritte nach vorne, so dass ich nun gerade so in Hörweite war. Ich hörte sie sagen: „Hauptmann… irgendetwas stimmt hier nicht. Dieser Nebel… er kommt mir… merkwürdig vor.“ Mir kam er nicht merkwürdig vor, aber ich unterließ es, das zum Besten zu geben. Erstens wollte ich für eine Weile unauffällig bleiben und zweitens war sie trotz allem eine Wassermagierin. Wenn ihr etwas, das mit Wasser zu tun hatte, seltsam vorkam, dann war es seltsam.
Und wie auf Kommando frischte auf einmal der Wind auf. Nur eine kleine, fast unmerkliche Brise, aber sie war trotzdem zu spüren. Etwas war darin verborgen. Wie ein Wispern, ein Flüstern… „Verdammt, hier stinkt’s gewaltig nach Magie.“ Na gut. Soviel zu „eine Weile unauffällig bleiben“, dachte ich säuerlich, als Charris und Justine sich beide nach mir umdrehten. Im Stillen verfluchte ich meine Unfähigkeit, mich einfach mal ruhig zu verhalten.
Der Hauptmann zog eine Augenbraue hoch. „Du kannst Magie riechen?“ Ich verdrehte die Augen. Natürlich konnte ich das nicht. Soweit ich weiß, ist Magie geruchlos, aber Göttin, er wusste doch, was ich meinte. Ich sagte ihm das, und er wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als ein weiterer Windstoß durch unsere Gruppe fuhr. Ein kräftigerer diesmal. Und nur durch unsere Gruppe. Hier stimmte etwas nicht. Hier stimmte etwas ganz gewaltig nicht.
Bevor ich etwas sagen konnte, erhob sich auf einmal ein gewaltiger Schwarm Krähen ein paar Meter entfernt. Etwas in ihrem Flug war… merkwürdig. Sehr merkwürdig. Sowohl der Hauptmann als auch ich hatten instinktiv die Hand an unseren Schwertern. Justine musste ebenso gespürt haben, dass sich hier etwas zusammenbraute, denn ich spürte, wie ihre Aura vor Aufregung flackerte. Die Pferde fingen an zu tänzeln, und selbst meine gelassene Castan schnaubte unwillig und wehrte sich gegen die Zügel.
Der Schwarm Krähen hielt jetzt direkt auf uns zu. Die Hand am Schwert fasste zu und zog es aus der Scheide. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass der Hauptmann dasselbe getan hatte. Im hintersten Winkel meines Kopfes registrierte ich mit Argwohn und Neugier die seltsame Form des Schwertes – die Klinge war nicht gerade, sondern wellenförmig geschwungen… wie eine züngelnde Flamme – aber ich zwang den Gedanken zurück und konzentrierte mich auf den Schwarm Krähen.
Schräg vor mir ertönte auf einmal ein auf- und abschwellender Gesang in der Alten Sprache. Justine webte Abwehrzauber. Und zwar ziemlich starke, soweit ich das mit meinen Laienkenntnissen beurteilen konnte. Ich hatte allerdings das leise Gefühl, dass die nichts halfen, denn als der Krähenschwarm uns erreicht hatte, passierte etwas… Unbeschreibliches.
Noch heute bin ich mir nicht sicher, was geschah, und ich kann nur das wiedergeben, an das ich mich glaube zu erinnern. Jedenfalls… die Krähen… verschmolzen zu einem verstörenden Gebilde, das entfernt menschliche Züge hatte, aber gleichzeitig wie ein großer wimmelnder Haufen von Flügeln, Schnäbeln und Augen wirkte. Die ganze Zeit wollte ich mich abwenden und mich übergeben, aber etwas hielt mich davon ab. Aus den Augenwinkeln registrierte ich, dass es den anderen ebenso ging. Und durch meine – zugegebenermaßen zu dieser Zeit äußerst schwachen – mentalen Schilde hindurch spürte ich etwas, das mich beinahe noch mehr verstörte: Angst. Kaum verhehlte, abgrundtiefe Angst. Und Hass, der… mir unbeschreiblich groß vorkam.
Aber ich kam nicht mehr dazu, mir großartige Gedanken darüber zu machen, denn plötzlich fing das… Gebilde an zu sprechen. Nicht… mit dem Mund, denn ich spürte die Stimme mehr als ich sie hörte. Spürte sie direkt in meinem Kopf. Ich wollte würgen, aber ich war völlig unfähig, mich zu bewegen. Und so hörte ich zu: „Du wirst sie nicht kriegen. Keiner von euch wird sie kriegen. Wenn euch euer mickriges Leben etwas wert ist, dann kehrt um.“
Ich wunderte mich noch, warum die Stimme mich ansprach, als ich auf einmal die Stimme des Hauptmanns hörte: „Du hast einen Fehler gemacht. Und diesmal wirst du nicht so einfach davon kommen wie beim letzten Mal.“ Er schrie weder, noch grollte oder winselte er. Nein, er sprach ganz ruhig… man konnte auch sagen: ausdruckslos. Aber was mich am meisten wunderte, war die Tatsache, dass er diese Gestalt da vor uns kannte. Wäre ich fähig gewesen, mich zu bewegen, ich hätte ihm in diesem Augenblick das Schwert an die Gurgel gesetzt und ihn gezwungen, mir endlich zu verraten, wie tief er in der Entführung meiner Schwester steckte. Ich war aber nicht fähig, mich zu bewegen, und so war ich dazu verdammt, weiter zuzusehen.
In meinem Kopf ertönte ein hämisches Lachen, das mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Dann sagte die Stimme: „Du drohst mir? Was willst du schon ausrichten? Du… und diese zwei Weiber da. Und welches Recht hast du, mir zu drohen?“ Worum immer es hier ging… wenn wir hier lebend raus kamen, war der Hauptmann uns beiden eine Menge Antworten schuldig. Ich versuchte irgendwie, zu Justine Blickkontakt aufnehmen zu können, und als es mir gelang, sah ich in ihren Augen genau dieselbe Fassungslosigkeit und Wut, die sich langsam in mir aufbaute.
Überrascht registrierte ich, dass mit zunehmender Wut das lähmende Gefühl, das die Präsenz vor uns da verursachte, weniger wurde. Gerade, als ich genug Wut angesammelt hatte, um mich endlich wieder bewegen zu können, spürte ich, wie eine beruhigende Wärme von der Präsenz des Hauptmanns in meinem Kopf ausging. Was zum…? Versuchte er etwa, mich ruhig zu stellen? Ich suchte wieder sein Gesicht, aber er hatte sich immer noch ganz auf die Gestalt vor uns konzentriert. Im Geiste fügte ich der verdammt langen Liste der Fragen eine weitere hinzu.
„Ich habe jedes Recht, dir zu drohen. Und jetzt lass uns weiterziehen. Oder hast du Angst vor uns?“ Über das schemenhafte Gesicht der Gestalt huschte etwas, das wie Hochmut aussah, und aus irgendeinem Grund macht mich das… wütend. Wütend genug, dass ich es endlich schaffte, aus der Umklammerung der Lähmung auszubrechen.
Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte ich mein Schwert erhoben und Castan auf das Gebilde zu getrieben. Als ich den wimmelnden Haufen erreichte und mit dem Schwert hineinstieß, zerstob er auf einmal, und ich fand mich inmitten eines wie wild auf mich einhackenden Alptraums aus Schnäbeln und Krallen. Ich weiß nicht, wie lange ich durchhielt, aber mir erschien es wie eine kleine Ewigkeit, bis ich in gnädige Bewusstlosigkeit fiel.